Sabine strickt seit vielen Jahren mit unserer Wolle. Hier schreibt sie über ihre persönlichen Strickerfahrungen, ihre Tipps, Ideen und Strick-Inspirationen und geht dabei interessanten Fragen und Themen nach.

Stricken für die Seele

Stricken für die Seele

„Stricken heilt von innen heraus.“ Ich halte inne, als ich diesen Satz lese. Ja, das stimmt, denke ich. Mich heilt das Stricken immer wieder aufs Neue. Auf dem Fußboden zwischen Umzugskisten sitzend, blättere ich spontan durch das Buch „Mit Stricken gesund und glücklich werden. Der Weg zu mehr Glück, Wellness und Gesundheit“ von Betsan Corkhill (leider derzeit im Handel nicht verfügbar). Ein Buch, das ich vor Jahren geschenkt bekam, und das – obwohl mich der Titel damals neugierig machte – bisher ungelesen in meinem Regal stand. Nun kam es mir in die Hände. Genau zum richtigen Zeitpunkt.
Denn eine völlig unerwartete Eigenbedarfskündigung hatte mir kurz zuvor den Boden unter den Füßen weggerissen. Drei Monate sind wahrhaftig keine lange Zeit, um ein neues Zuhause für unsere Familie zu finden. Die ungewisse Zukunft und der bevorstehende Stress machten mir zu schaffen. So sehr hatte ich gehofft, dass nach den belastenden Corona-Jahren mit Baby und Kleinkind endlich Ruhe und Normalität einkehrt. Und nun das. Eins steht für mich fest: Ohne das Stricken hätte ich so manch schwere Zeit in meinem Leben nicht so gut meistern können.

Es fing damit an, dass ich ein Austauschjahr in Finnland machte, und meine Gastmutter bat, mir das Sockenstricken beizubringen. So hing ich den ganzen langen Winter über an der Nadel und konnte dadurch besser mit der Kälte, Dunkelheit und der anfänglichen Einsamkeit klarkommen - und lernte, das Alleinsein zu genießen.

Überschrift in einem Buch: Pssst... Stilles Stricken

In der anstrengenden Abschlussphase meines Studiums entdeckte ich dann das Stricken als ein hilfreiches Mittel auf meinem Weg aus dem Burnout und durch depressive Episoden. Während ich strickte, konnte ich viele Sorgen vergessen, dem Gedankenkarussell entkommen und neue Lebensfreude empfinden. Auch das Stricken in Gemeinschaft lernte ich schätzen, während meiner Zeit in Portugal, wo es sehr heilsam und bereichernd für mich war.

Überschrift in einem Buch: Gemeinsam stricken

Jetzt, als Mama, unterstützt mich das Stricken wieder einmal auf vielfältige Weise. Es entspannt und beruhigt mich nach anstrengenden Tagen, ist ein kreativer Ausgleich im Alltag zu Hause und gibt mir vor allem die befriedigende Gewissheit, etwas Schönes erschaffen zu können. Wenn ich meinen Mitmenschen dann noch eine Freude damit machen kann, so gibt es auch mir ein erfüllendes Gefühl. Selbst wenn scheinbar alles aus den Fugen gerät, habe ich die Fähigkeit, etwas Positives zu erschaffen. Das Stricken gibt meinem Leben immer wieder Sinn und das Gefühl, etwas bewirken zu können - es ist meine persönliche Therapie.

So überrascht es mich nicht, dass ich gerade jetzt in den Wochen nach der Kündigung das Bedürfnis habe, besonders viel zu stricken. Obwohl die Vernunft mir sagt, dass gerade so viel zu regeln wäre, nehme ich mir jeden Abend Zeit für den Pullover für meinen Mann. Um ruhig zu bleiben und optimistisch nach vorn zu blicken in einer existentiell bedrohlichen Situation. Ich habe vieles im Leben nicht in der Hand, muss Veränderungen und neue Herausforderungen akzeptieren. Was ich jedoch in die Hände nehmen kann, sind meine Stricknadeln, und damit kann ich doch eine ganze Menge bewegen. Durch das Stricken wird mein Kopf frei, meine Gedanken werden geordneter. Und so wurde der Entstehungsprozess dieses Pullovers begleitet von unseren Gesprächen darüber, wie es für uns weiter geht.

Überschrift in einem Buch: Übernehmen Sie heute die Kontrolle

Ich habe gestrickt, und wir haben geredet. Es wurde immer klarer in meinem Kopf. Mit viel Zuversicht und neuer Energie konnte ich die Dinge selbstbewusst angehen. Und plötzlich hat uns das Glück gefunden. Nur wenige Wochen nach der Kündigung haben wir ein kleines Häuschen gekauft – das grenzt fast an ein Wunder – und ganz nebenbei konnte ich meinem Mann ein persönliches Geschenk machen und mich so für die liebevolle Unterstützung in den schwierigen Phasen bedanken. Dieser Pullover wird für immer der gestrickte Beweis dafür sein, dass scheinbar ausweglose Situationen sich in etwas Positives drehen können. Und wie gut es war, mir regelmäßig Zeit fürs Stricken zu nehmen – auch wenn gerade so viel anderes zu erledigen gewesen wäre.

Das ist meine persönliche Geschichte. Du hast deine. Vielleicht läuft bei dir gerade alles wirklich gut. Vielleicht hast du ähnliche oder ganz andere, noch größere Herausforderungen zu bewältigen. Jeder hat sein individuelles Leben zu meistern.

Das eingangs erwähnte Zitat „Stricken heilt von innen heraus“ ist eines von unzähligen in diesem Buch. Sie stammen von Zuschriften an Stitchlinks, ein globales Support-Netzwerk, das Autorin Betsan Corkhill für alle ins Leben gerufen hat, die „Spaß an der therapeutischen Wirkung von Handarbeiten – vor allem dem Stricken – haben“, wie sie sagt. Ich finde mich, meine Gefühle und Erfahrungen rund ums Stricken in den allermeisten Zitaten wieder. Und du wirst wissen, was es für dich persönlich bedeutet.

Ich wünsche dir alles Gute und viel Freude beim Stricken, oder - um es in Corkhills Worten zu sagen - auf deiner „individuellen Reise zur Genesung“.

Ein kleiner Strauß gelber Blumen neben einem aus Wolle gelegten Friedenssymbol