„Stricken ist wie zaubern können“ – diesen Spruch habe ich irgendwo einmal auf einer Postkarte gelesen. Er kam mir neulich wieder in den Kopf, denn es ist tatsächlich etwas Wahres dran: Wer stricken kann, besitzt die wunderbare Fähigkeit, sich etwas ganz nach den eigenen Wünschen zu erschaffen. Etwas Einzigartiges, das es so nirgendwo sonst gibt. Mit ein bisschen Wolle und zwei Nadeln als Zauberstäbe können wir unsere Träume vom Lieblingskleidungsstück wahr werden lassen und dabei genau auf die individuellen Bedürfnisse und Vorlieben eingehen.
Mein zweijähriger Sohn hat sehr klare Vorlieben. Wie viele andere kleine Jungs liebt er Trecker. Das ist erstmal nicht weiter ungewöhnlich. Seine Lieblingsfarben hingegen entsprechen gar nicht dem, was die Modeindustrie immer noch häufig für „typische Jungs“ bereit hält. Kleidung in blau, grün, braun oder gelb beachtet er kaum, stattdessen experimentiert er gerne mit den Röcken, Kleidern und Pullis seiner großen Schwester. Beide sind sich offenbar einig, dass Rosa-, Lila-, Beeren- und Rottöne am allerschönsten sind. Und warum nicht: Farben sind für alle da!
Ich sehe, was meinem Sohn gefällt und möchte ihm unbedingt das Gefühl vermitteln, dass er goldrichtig ist. Und so unterstütze ich ihn dabei, seinen eigenen Stil nach seinem Geschmack frei entfalten zu können. Dabei gibt es nur manchmal eine Herausforderung: die Vereinbarkeit seiner Vorlieben. Denn obwohl das Thema Diversität und Gendergerechtigkeit heute in aller Munde ist, wird in den meisten Kinderabteilungen noch immer eine unübersehbare Geschlechterzuschreibung vorgenommen. Rosa vs. Hellblau, Prinzessin vs. Bagger. Dazwischen gibt es oft nicht viel. Und ein Treckerpullover in lila oder pink? Erst recht nicht!
Zum Glück kann Mama zaubern. Und so kam mir die Idee, meinem Sohn zu seinem Geburtstag einen Pullover zu stricken, der genau auf ihn und seine Vorlieben zugeschnitten ist. Eine kostenlose Anleitung für einen tollen Treckerpullover habe ich auf Ravelry gefunden – leider ist sie nur auf Norwegisch verfügbar. Auch wenn ich diese Sprache kein bisschen spreche, konnte ich den Anweisungen dank meiner Strickerfahrung, einem ausgeprägten Willen und der Hilfe von Google Translate doch ganz gut folgen.
Schwieriger hingegen war die Farbwahl. Denn es gibt so viele tolle Lila-, Beeren- und Rottöne, dass ich den Traktorpulli vor meinem inneren Auge gleich in mehreren passenden Farbvarianten gesehen habe. Meine Entscheidung fiel schließlich deutlich gemäßigter aus, als ich geplant hatte. Vielleicht war ich letztlich doch nicht mutig genug, einen rosafarbenen Pullover mit lila Traktoren zu stricken – oder mein eigener eher schlichter Geschmack hat mich beim Wollekauf zu sehr geleitet. Wie auch immer, gestrickt habe ich meinem Sohn einen cremefarbenen Pulli (118 Sahne), auf dem rote Trecker (135 Rotbuche) mit dunkellilafarbenen Reifen (134 Amethyst) fröhlich ihre Runden drehen und ökologisch völlig unbedenkliche Abgase (117 Tee) in die Luft pusten.
Ich finde, er ist wirklich schön geworden – und meinem Sohn gefällt und steht er ausgezeichnet. Das ist die Hauptsache. Dennoch bin ich selbst überrascht, dass er so dezent geworden ist. Obwohl ich meinen beiden vorleben möchte, dass sie sich von starren und überholten Normen nicht beeinflussen lassen müssen, kann ich mich anscheinend selber noch nicht ganz freimachen von den Glaubenssätzen, die auch mich geprägt haben. Eine spannende Erkenntnis! Aber Veränderung beginnt im Kopf, und was ich für meine Kinder stricke, muss den beiden gefallen – sonst niemandem.
Verzaubern wir unsere Welt mit unseren Strickkünsten – und machen sie so zu einem offenen, toleranten und freien Ort, an dem der individuelle Mensch wichtig ist, mit allem, was ihn ausmacht.